Auf der Brücke

Auf See bleiben Begegnungen zwischen Seglern und Berufsschifffahrt nicht aus. Nach welchen Regeln dieses Zusammentreffen abläuft, regeln die Kollisionsverhütungsregeln (KVR). Doch wie nimmt der Offizier auf der Brücke uns Segler eigentlich wahr? In Flensburg tauschten wir die Rollen...

Regen legt sich wie ein Schleier über die bewegte See. Mit 30 Knoten kachelt der Wind aus Nord, während die Dämmerung einsetzt. Die See türmt sich im Atlantik auf bis zu fünf Metern auf. Angestrengt blicken wir aus den Fenstern auf der Brücke, versuchen im letzten Grau des Tages etwas zu erkennen. Plötzlich erkennen wir genau voraus Lichter. Zwei Segler haben ihre Navigations-beleuchtung eingeschaltet. Wir sollen schätzen, wie weit sie noch entfernt sind. Anderthalb bis zwei Seemeilen glauben wir, während unser Containerschiff Flensburg weiter mit 23 Knoten auf die beiden Segler zuhält. 22.000 Tonnen Stahl gegen maximal zehn Tonnen Kunststoff. Der Kapitän ruft seine Kommandos: „30 Grad nach Steuerbord!“.

Es dauert einige Sekunden, bis das Ruder eingeschlagen ist und der Bug beginnt, sich zu drehen. Doch wir schaffen es am Heck des Seglers vorbei. Doch jetzt haben wir eine stehende Peilung mit dem Segler, der von Backbord unseren Weg kreuzt. Der Kapitän gibt wieder Befehl, den Kurs um 30 Grad zu ändern. Jetzt nach Backbord. Wieder dauert es eine gefühlte Ewigkeit bis die Flensburg reagiert. Und wieder passieren wir das Heck des Seglers. Das Meer, der Regen und Bewegungen des Schiffes frieren ein. „Diese Übung ist beendet“, tönt es aus unsichtbaren Lautsprechern. Wir werden in den Briefing-Raum gerufen – Manöverkritik.

Anstatt auf dem Atlantik befinden wir uns Anfang November in Flensburg. Auf dem Campus der FH Flensburg steht einer der modernsten Schiffssimulatoren Europas. Auf drei großen nachgebauten Brücken können die Nautiker von Morgen jede erdenkliche Übung durchführen, um für den Alltag auf See vor-bereitet zu sein. Der Kreuzer Yacht Club Deutschland (KYCD) hat zusammen mit dem Kapitän und Lotsen Gerald Immens ein praktisches Seminar für Sportbootfahrer entwickelt, um ihnen die Möglichkeit zu geben, Begegnungen auf dem Wasser mal aus der anderen Perspektive zu erleben.

Wir werden erneut nach unserer Einschätzung des Abstands zu den Seglern zum Zeitpunkt der ersten Sichtung gefragt. Mit unseren anderthalb bis zwei Seemeilen lagen wir deutlich daneben. Gerade 0,5 Seemeilen betrug der Abstand zum ersten Segler. Zuvor werden einen ganzen Tag unsere Kenntnisse zur Schiffsführung auf den aktuellen Stand gebracht und aufgefrischt. Wie funktioniert eigentlich Radar? Welche Fehler können bei der Interpretation des Radarbildes auftauchen? Was bedeuten die zahlreichen Einstellmöglichkeiten und warum ist es besser, sie manuell einzustellen, als auf die Automatik zu vertrauen? Für viele von uns war das Radarbild immer ein Buch mit sieben Siegeln. Dass Gegenstände ein Echo erzeugen, war klar, doch wie das Bild richtig interpretiert wird, konnten wir unter Anleitung der Seminarführung lernen. Und das war dann doch einfacher als gedacht. Anhand von Beispielen erfuhren wir auch, dass das „Overlay“ des Radarbildes über die Seekarte nicht unbedingt die beste Wahl ist. Die detaillierte Seekarte verleitet dazu, ihr mehr zu trauen, als den realen Echos. Auf einigen Beispielbildern konnten wir sehen, wie vor der Küste auf der Karte das Radarecho lag. Im AIS Modul lernen wir, wie die Technik funktioniert und was die Vor- und Nachteile des Systems sind.

Anschließend möchte niemand von uns ohne aktives AIS auf dem Wasser sein. Auch wenn die Berufs-schifffahrt „unsere“ Class-B-Transponder ausblenden kann, überwiegen die Vorteile. Die graue Theorie über verschiedene Systeme und deren Benutzung wird durch Anekdoten aus der Erfahrung des Kursleiters aufgelockert und verständlicher. Anhand von Beispielen aus seinem Berufsleben schafft er es, uns komplexe Zusammenhänge verständlicher zu erklären.

Als die letzte Übung beginnt, fühlen wir uns schon wie alte Hasen. Die Aufgabenstellung stellt sich einfach dar: Wir fahren einen Frachter in der Straße von Dover. Die Sicht ist gut, es herrscht viel Verkehr – aber für diese Seegegend nichts Ungewöhnliches. Die Übung beginnt ruhig, der Puls fährt wieder runter. Doch innerhalb weniger Minuten bricht das Chaos aus. Schnellfähren rauschen an. Zuerst sind sie nur auf dem Radar und AIS zu sehen, doch die Peilung steht. Ruder wird gelegt, Geschwindigkeit verringert, Manöver gefahren. Und plötzlich dümpelt Segler Kuddel ganz gemütlich mitten in den Ausweichmanövern der Tanker und Frachter. Und das mitten im Verkehrstrennungsgebiet – um das rechtwinklige Queren eines solchen kümmert er sich herzlichst wenig. Jede Crew fuhr dieses Manöver anders. Segler Kuddel hätte diese brenzlige Situation wohl überlebt, doch für die Mannschafften auf der Brücke hat sich gezeigt, wie sehr ein kleiner Segler, der sich nicht an die KVR hält oder zu sehr auf seinem Wegerecht pocht, eine scheinbar geordnete Situation durcheinanderbringen kann.

Nach dem Seminar sind wir alle erschöpft. Die Konzentration, die wir in den letzten Stunden auf unseren Positionen auf der Brücke aufgebracht haben, macht sich nun bemerkbar. Es war ein eindrucksvolles Erlebnis und hat uns Seglern ermöglicht, die Perspektive zu wechseln, um in Zukunft Begegnungen mit der Berufsschifffahrt besser verstehen und einschätzen zu können. Eigentlich für jeden Segler ein Plichttermin! Der Kreuzer Yachtclub Deutschland ist bisher der einzige Anbieter eines solchen Seminares. Der nächste Termin ist für den Oktober 2020 angesetzt.

Informationen: www.kycd.de

Artikel in der Zeitschrift "Segeln", Ausgabe 2/2020